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    Puritanismus und Verbotskultur   zum Nachlesen! 

Andrea Roedig - Deutschlandfunk   2018-10-07    
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Puritanismus als Sinnbild für sauertöpfisch lustfeindlichen, humorfreien Rigorismus wirkt wie ein Totschlag-Argument. Nichts an diesem Begriff scheint positiv besetzt zu sein. Als die Initiative #aufschrei im Jahr 2013 massenhaft sexuelle Belästigung öffentlich machte, sprach der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck von „Tugendfuror“.
Ähnliche Argumente kehren immer wieder, auch in den aktuellen Debatten um #MeToo, wobei es nicht nur um Sexualität geht, sondern um die Befürchtung, dass eine ganze Kultur heute strenger, prüder, geregelter, ängstlicher, engstirniger, womöglich hypermoralisch und puritanisch werde.


Ein „neuer Puritanismus“ – der wird in den Debatten um Political Correctness oft als Schreckensbild verwendet. Warum fürchten wir den Einwand so? Mit dem historischen Puritanismus jedenfalls hat er nicht viel zu tun.

Puritanismus als Sinnbild für sauertöpfisch lustfeindlichen, humorfreien Rigorismus wirkt wie ein Totschlag-Argument. Nichts an diesem Begriff scheint positiv besetzt zu sein. Als die Initiative #aufschrei im Jahr 2013 massenhaft sexuelle Belästigung öffentlich machte, sprach der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck von „Tugendfuror“.

Ähnliche Argumente kehren immer wieder, auch in den aktuellen Debatten um #MeToo, wobei es nicht nur um Sexualität geht, sondern um die Befürchtung, dass eine ganze Kultur heute strenger, prüder, geregelter, ängstlicher, engstirniger, womöglich hypermoralisch und puritanisch werde.

Reform- und Protestbewegung gegen den Katholizismus

Historisch besehen sind diese Vergleiche allerdings nicht ganz richtig. Puritaner haben zwar Kirchen gestürmt und Theater geschlossen, aber sie waren – als Reform- und Protestbewegung gegen den Katholizismus – weder sexualfeindlich noch besonders autoritätshörig.

Was fürchten wir heute so sehr am Puritanismus und was sagt diese Furcht über das 21. Jahrhundert? Die sich anti-moralisch gebärdenden Freigeister haben Coolness und Lässigkeit auf ihrer Seite. Aber es gilt, ein differenzierteres Bild zu zeichnen und vielleicht am sogenannten Puritanismus das zu retten, was man sein kritisches Potenzial nennen könnte.

„Or c’est là le propre du puritanisme que d’emprunter, au nom d’un prétendu bien général, les arguments de la protection des femmes et de leur émancipation pour mieux les enchaîner à un statut d’éternelles victimes, de pauvres petites choses sous l’emprise de phallocrates démons, comme au bon vieux temps de la sorcellerie.“

„Genau das ist das Wesen des Puritanismus: Im Namen eines vermeintlichen Allgemeinwohls Argumente für den Schutz der Frauen... suchen, nur um sie besser anketten zu können in ihrem Status ewiger Opfer, armer kleiner Dinger, die unter dem Einfluss phallokratischer Dämonen stehen. Wie in den guten alten Tagen der Hexerei.“

Puritanismus. Dieser längst vergessen geglaubte Begriff taucht wieder häufiger auf. Zum Beispiel im prominent von Catherine Deneuve unterzeichneten offenen Brief einiger Französinnen gegen die #Metoo-Kampagne. Vielerorts wird die Befürchtung laut, dass derzeit alles irgendwie puritanischer werde.

Rauchverbot in öffentlichen Räumen, Handyverbot an Schulen, Alkoholverbot auf der Straße, Dönerverbot in der U-Bahn. Auch wenn niemand mehr Müll auf die Straße schmeißt und Hundekot fein säuberlich in Tütchen fortgetragen wird – vom „Nein ist nein!“ bis zum Veggie-Tag liest sich unsere liberale Gesellschaft manches Mal wie ein durchreglementiertes Leben.

„Calvinistischer Chor“ oder „Terror der Tugend“

Zahlreiche Debatten werden um Verbote geführt, besonders erregen neue sprachliche Konventionen die Gemüter: „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“, ist das Argument derer, die nicht verstehen wollen, warum in der Neuübersetzung von „Pippi Langstrumpf“ jetzt ein „Südseekönig“ regiert, weil „Negerkönig“ eben ein rassistischer Begriff ist, der einer gesellschaftlichen Auffassung nach nicht mehr politisch korrekt ist.

Gibt es tatsächlich einen neuen „Kulturpuritanismus“, einen „Calvinistischem Chor“ oder „Terror der Tugend“? Insbesondere rechte Presse und Internet-Plattformen bedauern einen neuen Puritanismus, wenn es um Fragen der Political Correctness geht. Konservative, die schon immer einen Rollback der sexuellen Revolution herbeigesehnt haben, reiben sich jetzt die Hände angesichts der #MeToo-Debatten um männlichen und weiblichen Sex.

Puritanisch meint landläufig: engherzig, bigott, pedantisch, prüde, rückständig und klingt vor allem – humorlos. Puritanisch sein möchte daher niemand. Woher aber stammt eigentlich das Bild, das wir vom Puritanismus haben?

Puritaner und Anti-Katholiken

Schauen wir zunächst zurück. Eine radikale, calvinistisch inspirierte Reformbewegung, bezeichnet als Puritanismus, entstand während des 16. und 17. Jahrhunderts im England unter der Herrschaft von Heinrich VIII. und Elisabeth I.. Sie wünschte sich die vom Papst abgespaltene anglikanische Kirche strenger protestantisch. Im England der elisabethanischen Zeit galten Puritaner als „a hotter sort of Protestants“ und waren vor allem eines: Anti-Katholiken. Sie wollten die Liturgie verändern, Bilder aus den Kirchen verbannen, den Priesterornat abschaffen.

Politisch standen die Puritaner eher auf der Seite des Parlaments als auf der des Königs und der englische Bürgerkrieg ab 1642, der schließlich mit der Enthauptung König Karls I. endete und den Lord Protector (Schutzherrn) Oliver Cromwell an die Macht brachte, wird daher auch als „puritanische Revolution“ bezeichnet. Cromwell selbst war radikaler Puritaner und führte das Land bis zu seinem Tod 1658 in einer rigoros puritanisch ausgelegten Gewaltherrschaft.

Lange blieb die Macht der Puritaner in England nicht bestehen – ihre Hochzeit könnte man von 1540 bis 1660 ansetzen. Mehr Einfluss auf die gesamte Kultur hatten jene Separatisten, die ab 1620 als selbsternannte Heilige, als Pilgerväter in die Neue Welt emigrierten und an der Ostküste Amerikas New England als ein „Neues Jerusalem“ errichteten.

Glaubensfragen bestimmten das Leben

Heute ist kaum noch vorstellbar, wie fundamental Glaubensfragen das Leben damals bestimmten – das Religiöse war politisch und das Politische religiös. Diejenigen, die sich selbst „the godly“, also die Frommen nannten, wollten eine religiöse Erneuerung des Alltagslebens. Im Lauf der Zeit nahmen sie den für sie erfundenen Schimpfnamen „Puritaner“ als Eigenbezeichnung an. Etliche unter ihnen waren Millenaristen, sie glaubten an ein 1.000-jähriges Reich, das auf Erden zu errichten sei, in dem der Messias wiederkehrt.

Das ganze Leben sollte heilig sein, fromm und voller Spiritualität, damit gerieten die irdischen Verlockungen bei den Puritanern in Verruf. Sie wandten sich gegen Tanz, Glücksspiel, körperliche Betätigung, Alkohol- und Tabakgenuss, aber vor allem auch gegen das Theater als säkulares Abbild des katholischen Bild- und Kirchenzaubers. Für sie war das Theater „the Chapel of Satan“ – die Kirche des Satans.

Natürlich gab es Widerstand. Spott und Häme gegenüber dem strengen Protestantismus waren im 17. Jahrhundert religionspolitisch motiviert, aber auch lebensweltlich. Und wo konnte der Spott besser ausgetragen werden als auf den angefeindeten Bühnenbrettern. Ben Johnsons Stück „Der Bartholomäusmarkt“ von 1614 ist die bekannteste zeitgenössische Theaterparodie auf die Puritaner. Die Protagonisten des Stückes heißen „Dame Purecraft“, „Frau Reinekunst“ – oder ein

„Zeal of the Land Busy“, etwa „Herr Eifer vom Heiligen Land“. Er ist ein Paradebeispiel der Scheinheiligkeit, wettert gegen die fleischlichen Genüsse, liebt aber das Schweinefleisch, will das Puppentheater zerstören, wird später jedoch zum glühenden Theateranhänger bekehrt.

Psychologie des Puritanismus

Subtiler als bei Ben Johnson findet sich auch bei William Shakespeare eine Auseinandersetzung mit den Puritanern, etwa in dessen Stücken „Hamlet“, „Maß für Maß“ oder „Othello“. Shakespeare gehe es weniger um die Parodie als um die Psychologie des Puritanismus, meint der Literaturwissenschaftler Alessandro Serpieri; vor allem an der Figur des Jago im „Othello“ lasse sich das nachweisen:

„Jago ist ein obszöner, sexuell phobischer Charakter, ein psychologisches Oxymoron, das offen die projektive, manichäische Natur des puritanischen Geistes widerspiegelt.“

Sexuelle Phobie, psychische Widersprüchlichkeit, Projektion und ein zweigeteiltes Weltbild – wir werden diese Diagnose später wiederfinden. Zuvor aber sei noch eine weitere Parodie erwähnt, diesmal aus Deutschland, wo im 18. Jahrhundert nicht die Puritaner, aber die durch sie inspirierte Bewegung der Pietisten eine gute Zielscheibe des Spotts abgab: 1736 verfasste die damals 23-jährige Luise Adelgunde Victorie Gottsched eine Komödie mit dem Titel:

„Die Pietisterey im Fischbeinrocke“

In dieser Komödie, die zunächst anonym erschien, geht eine geistlich ambitionierte „Frau Glaubeleichtin“ dem „Magister Scheinfromm“ auf den Leim und hätte fast ihr ganzes Vermögen verloren, wäre nicht „Herr Wackermann“ rechtzeitig eingesprungen. Sein Lamento auf die Dummheit mancher Pietisten beschließt das Stück:

„Der Betrug, die Gleißnerey, die Lust zur Sectirerey, die Bosheit ... ist ... so sichtbar, daß man mit fleiß muß blind seyn wollen; wenn man es nicht siehet. Wie viel elende Schmieralien, wie viel Heuchler, wie viel verborgene Bösewichter, wie viel liederliche Kerl ... wie viel leichtfertige ... Weiber giebt es nicht unter ihnen.“

Gebetskreise, Lesezirkel, Introspektion

Puritaner und auch Pietisten grenzten sich gegenüber der Orthodoxie der Kirchen stark ab, sie schlossen sich oft zu kleinen, dezentral organisierten Gemeinschaften zusammen mit verbindlichen Regeln, mit Gebetskreisen, Lesezirkeln, mit Techniken der Gewissenserforschung und Introspektion. Man heiratete untereinander. Wo diese Kultur einer frommen Lebensführung an politischem und gesellschaftlichem Einfluss gewann, wurde es mühsam für die konventionell Gläubigen.

Die Hauptvorwürfe gegen die Puritaner lauteten Heuchelei und eifernder Fanatismus. Dass aber die Polemik so emotional aufgeladen war, dass der Puritanismus oder auch der deutsche Pietismus den kritischen Zeitgenossen so besonders auf die Nerven ging, lag an einem elitären Habitus. Ulrike Gleixner, Historikerin und Expertin für frühneuzeitliche Sozial- und Geschlechtergeschichte sowie für Frömmigkeitsgeschichte sagt:

 „Eine Haltung, die ausdrückt: Ihr macht es falsch und wir machen es richtig, nur wir sind moralisch gut, ist ein immenser Vorwurf. Im Grunde genommen ist es eine Unverfrorenheit, ein Sich-Erheben über die anderen. Das macht wütend und erklärt auch die Lust daran, Puritanismus oder Pietismus zerstörerisch zu diffamieren.“

Selbstzucht und eine ätherische weibliche Sexualität

Ulrike Gleixner weist darauf hin, dass die Auseinandersetzungen um Puritanismus im 17. Jahrhundert nur vor einem religiösen Hintergrund zu verstehen sind. Die Regeln für das sittliche Leben hatten einen religiösen Sinn. Von einer Verbotskultur des Puritanismus zu sprechen, führe in die Irre. Puritaner und Pietisten wollten den Glauben erneuern, ihr Ziel war ein spirituelles Leben in der Gemeinschaft, wobei diese geistliche Erweckung auch erheblich zum gesellschaftlichen Fortschritt beitrug.

Jedoch Puritaner seien nicht nur Moralapostel, sondern auch Aufklärer und Sozialreformer „avant la lettre“ gewesen. Sie dachten egalitär, gründeten Schulen und Waisenhäuser, setzten auf Erziehung und Bildung auch der Armen und der unteren Stände. Ihre Abneigung gegen Luxus und Volksbelustigung hatte weniger mit totaler Askese zu tun, als mit dem Gedanken des rechten Maßes; man wollte sich nicht durch sinnlosen Zeitvertreib vom Weg zum Heil ablenken lassen.

Der Kulturanthropologe Michael Hochgeschwender betont, dass die Puritaner – entgegen dem Vorurteil – mit der Sexualität oft liberaler und offenherziger umgingen als Katholiken und Lutheraner. Das Bild vom prüden Puritaner hält er für eine Erfindung, ja eine Rückprojektion späterer Zeiten:

„Vieles von dem, was heute als puritanisch firmiert, ist ein Produkt der Obsessionen von Aufklärern und bürgerlichen Viktorianern des 19. Jahrhunderts, [denen Selbstkontrolle, Selbstzucht und eine ätherische weibliche Sexualität als kaum hinterfragte Werte an sich galten]. .... Um es in ein Schlagwort zu fassen: Die Puritaner waren nicht puritanisch und die Aufklärer nicht aufgeklärt.“

„Stahlharte puritanische Kaufleute“

Was heute unter dem Label „Puritanismus“ läuft, ist demnach eher ein semantisches Konstrukt, befördert auch durch zahlreiche literarische und filmische Werke. „Der scharlachrote Buchstabe“, Nathaniel Hawthornes Romanklassiker von 1850, der im amerikanischen Puritanismus in Neuengland spielt, gehört genauso dazu wie Stefan Zweigs „Castellio gegen Calvin“. Oder Ingmar Bergmanns Film „Fanny und Alexander“, der einen brutal sadistischen Protestantismus ins Bild setzt.

„Mit voller Gewalt wendet sich die Askese ... vor allem gegen eins: das unbefangene Genießen des Daseins und dessen, was es an Freuden zu bieten hat.“

Max Webers „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ ist ein grundlegendes Werk der Religionssoziologie, das mit seinen immer wieder aufregend zu lesenden Studien ebenfalls zu dieser Literarisierung beigetragen hat. Webers These lautet: Das puritanische Ethos holt die ursprünglich klösterlich-weltflüchtige Askese ins Alltagsleben hinein. Diese „innerweltliche Askese“, so Max Weber, trägt zu einer für die Entwicklung des Kapitalismus wesentlichen Disziplinierung und Rationalisierung der Lebenswelt bei, in deren Folge Arbeit zum Selbstzweck wird. Am Ende dieser Entwicklung stehen jene „stahlharten puritanischen Kaufleute“, die als „selbstgewisse Heilige“ Erfolg und Reichtum nicht genießen, sondern anhäufen und als Zeichen ihres Gnadenstandes betrachten.

„Political Correctness“ und „Cultural Wars“

Auch wenn Max Webers Thesen mittlerweile eher umstritten sind, befestigen sie das Bild einer protestantischen Strenge, eben jenes semantische Konstrukt „Puritanismus“, auf das heute die Gegner des vermeintlich Politisch Korrekten zurückgreifen.

„Political Correctness“ ist ein Wort-Import aus den USA, wo der Begriff seit den 1990er-Jahren in einer breiten Öffentlichkeit gebräuchlich ist. Ursprünglich war die Abkürzung „pc“ ein Wort der Linken, um selbstironisch eine zu strenge Linientreue im eigenen Lager zu markieren. Schnell aber vereinnahmte die neokonservative Seite diesen Begriff und machte ihn zu einem polemischen Werkzeug gegen den multikulturellen Anspruch linker Bürgerrechtsbewegungen und ihre Forderungen nach Minderheitenrechten.

In Deutschland berichtet der Spiegel 1991 in einem Artikel mit dem Titel „Inquisition und Zensur“ erstmalig über „political correctness“ an amerikanischen Universitäten. Die dort stattfindenden sogenannten „Cultural Wars“ lieferten auch in Deutschland Autoren wie Henryk M. Broder oder Thilo Sarrazin Stoff für derbe Attacken gegen das angebliche Gutmenschentum. In einem umstrittenen Sachbuch mit dem Titel „Die Diktatur des Guten – political correctness“ hatte der Lübecker Publizist Klaus Groth 1996 kämpferisch gefordert, die Dinge wieder beim Namen nennen zu dürfen:

„Die Politikkommissare gestern, die Gesinnungspolizisten heute, ihre Methoden der Auslese und die Mittel der Diffamierung gleichen sich. Political Correctness ist die neue Schlachtordnung... der postmaoistischen Gleichmacher.“

„Neigung zu Dogmatismus und Intoleranz“

In den Ausläufern dieser Debatte befinden wir uns noch immer, und immer noch erscheinen die Lager extrem gespalten, zwischen denen, die von Zensur und puritanischer Verbotskultur sprechen und den anderen, die finden, dass es jetzt an der Zeit sei, Diskriminierungen aufgrund von Rasse, Klasse oder Geschlecht radikal aufzuheben, Machtmissbrauch öffentlich anzuklagen, die Integrität vor allem der Benachteiligten zu schützen.

Hoch unbefriedigend an der Debatte ist, dass sie durch Polarisierung im Endeffekt Lähmung erzeugt, als gäbe es derzeit keine Sprache für abwägende, offene Positionen. Eine Mitschuld an der Lähmung schließt alle politischen Kräfte ein – links wie rechts. In Bezug auf den US-amerikanischen Diskurs um Political Correctness schreibt der Politikwissenschaftler Matthias Hildebrand:

„Offensichtlich konnte der konservative Propagandafeldzug nur erfolgreich sein, weil der Öffentlichkeit zumindest die exzessiven Tendenzen des Multikulturalismus und seine Neigung zu Dogmatismus und Intoleranz aus eigener Erfahrung bekannt waren. Die Berichte der Presse klangen deshalb plausibel, weil sie durch eigene Erfahrung bestätigt wurden.“

Neben der oft diffamierenden und grobschlächtigen Anti-pc-Polemik von rechts äußerten sich auch Autoren aus dem politisch linken Spektrum – ebenfalls polemisch, aber interessanter in der Argumentation. Die österreichischen Kulturjournalisten Matthias Dusini und Thomas Edlinger befassten sich 2012 in einem Edition Suhrkamp Band mit dem Titel „In Anführungszeichen. Glanz und Elend der Political Correctness“ spöttisch und anhand zahlreicher Fallbeispiele aus Politik, Kunst und Kultur mit der linken Vorliebe für Minderheiten als unterdrückte Opfer.

„Masochismus der Rauchverbote und Körperdressuren“

Dusini und Edlinger seufzen:

„Wer spricht noch... über Transgression, Erotik oder Rausch? Der größte Spaß scheint gegenwärtig der Masochismus der Rauchverbote und Körperdressuren zu sein. Narziss, so behaupten wir, hat sich als verborgener... Gott eines politisch korrekten Lebensstils inthronisiert – und als dessen Dämon.“

Die Autoren analysieren die psychische Struktur, die hinter der politisch korrekten Sprache und ihren politischen Anliegen steckt, die sie vor allem von Narzissmus, Lustfeindlichkeit und einer gewissen Hochnäsigkeit gesteuert sehen.

„Seit den 1990er Jahren hat das Asketische Konjunktur. Vieles, was vorher ein hohes Ansehen genossen hat und als lustvoll anerkannt war, gilt jetzt als prollig.“

Der österreichische Philosoph und Kulturtheoretiker Robert Pfaller schreibt in seinen Büchern „Wofür es sich zu leben lohnt“ 2011 und „Erwachsenensprache“ 2017 gegen Sicherheitsdenken, Genussfeindlichkeit und einen alle Verunreinigung und Gefahr ausmerzenden „Kulturpuritanismus“ an. Auch seine Argumentation fußt auf der Narzissmus-These. Im Nachgang der ‚68er und ihren Bestrebungen nach Selbstverwirklichung sei eine politische Kultur entstanden, die das Private nicht mehr vom Öffentlichen trenne und eher das Individuum mit seinen subjektiven Empfindlichkeiten politisiere, statt den eigentlich wichtigen Strukturfragen nachzugehen. Pfaller hält die gegenwärtigen ethischen Debatten für eine Ideologie bestimmter „Eliten der Empfindlichkeit“, die „großes Pathos aufbringen für kleinstes Pipifax“.

Infantilisierung verleidet den Genuss

Pfaller verbindet den Vorwurf des Narzissmus – und hier kehrt das Konstrukt des Puritanismus wieder – mit dem der Genussfeindlichkeit: Die auf Sicherheit bedachten fürsorglichen Regelungen, Triggerwarnungen, Gesundheitshinweise infantilisieren uns und beschneiden uns um alles, was uns gefährlich und unangenehm werden könnte: zu guter Letzt um den Genuss. Zu seinem Lieblingsthema „Rauchverbote“ schreibt er:

„Eine beträchtliche Zahl der Verbotsbefürworter [scheint] in erster Linie vom Neid auf das Glück des Anderen, verbunden mit dem Hass auf das Neidobjekt zu sein. Dieser orale Genuss... ist offenbar sehr geeignet... den neidigen Wunsch zu wecken, dem anderem möge versagt werden, was man selbst nicht hat und für sich selbst auch gar nicht will.“

Genuss aber ist für Pfaller eine soziale und politische Haltung, die nun bedroht wird durch narzisstische Empfindlichkeit und das, was ihr zugrunde liegt: Neid.

Die historischen Vorwürfe gegen den Puritanismus – und die heute neuen gegen Political Correctness sind nicht identisch, aber sie überschneiden sich in wesentlichen Punkten.

Galt der historische Puritaner seinen Gegnern als scheinheilig, rigide, freudlos, gelten die Politisch Korrekten heute als empfindlich, selbstgerecht, genussfeindlich und dogmatisch.

„Narzisstisch-empfindsame Neidhammel“ bei Nietzsche

Die These, dass die Politisch Korrekten im Grunde narzisstisch-empfindsame Neidhammel seien, lässt sich schon bei Friedrich Nietzsche finden.

„Sofort triumphierte wieder Judäa, dank jener gründlich pöbelhaften (deutschen und englischen) Ressentiment-Bewegung, welche man die Reformation nennt.“

Schreibt Nietzsche in seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral“. Die ein auch ins Antisemitische abgleitender Rundumschlag gegen das Christentum ist. Der Schwache neide dem Starken sein Glück, ist Nietzsches Argument. Und weil er sich nicht holen könne, was er will, erfinde der Schwächling eine Institution: das christlich schlechte Gewissen, mit dem er alles vergifte, verpeste und verbiete, was Spaß macht. Am Grunde der Moral liege versteckter Hass.

Diese brachiale Psychologie ließe sich durchaus auch umkehren: Denn das Ressentiment ist genauso gut, wenn nicht stärker, auf der Seite von Nietzsche zu finden: in dem misogynen und oft auch rassistischen Hass gegen das Schwache, das Gefühlige, das angeblich bloß Individuelle. Was aber ist an Empfindsamkeit so schlimm? Im Grunde ärgert Nietzsche und seine anti-korrekten Nachfolger die Veränderung des status quo der Machtverhältnisse.

Sektierertum und Kleinlichkeit

Was also stört an der Vorstellung eines neuen Puritanismus? Und was ließe sich daran retten? Dazu vier Thesen:

These 1: Der eigentliche Stachel am Puritanismus ist sein Sektierertum

Puritaner waren beseelt von der Überzeugung, dass es eine Wahrheit gibt, die gesellschaftlich erst zu entwickeln und über gute Lebensführung herzustellen wäre. Das führte zu einer Ernsthaftigkeit, die heute auch den sogenannten Gutmenschen zugeschrieben wird – in jenen radikalökologischen Bewegungen etwa, die tatsächlich den Lebensstandard runterfahren wollen zugunsten der folgenden Generationen. Solch ein Ernst erweckt Widerspruch und lässt sich leicht verunglimpfen. Aber er ist – je nach gesellschaftlicher Sichtweise –  auch Verantwortung und Avantgarde.

These 2: Es ist nicht das Verbot, das aufregt, sondern seine Vernünftigkeit.

Es geht in der Auseinandersetzung um Puritanismus nicht wirklich um Verbote oder eine neue Verbotskultur. Interessanterweise haben meist diejenigen, die sich in populistischer Manier als Opfer von Zensur und Verbot darstellen, keine Probleme mit Law and Order. Verbote, die religiöse, moralische oder lebenspraktische Begründungen anführen, stützen sich aber nicht auf blanke Gewalt, sondern argumentieren mit Gesundheit und Bildung, mit Gerechtigkeit oder auch „gutem Leben“.

Im Rahmen eines gesellschaftlichen Konsenses sind solche Gebote vernünftig. Und genau das macht sie fragil und angreifbar. Ihre trockene Rationalität – nicht das Verbot an sich – ruft Affekte des Trotzes hervor.

These 3: Askese ist antiautoritär

Im Jahr 1618 erlaubte der englische König Jakob I. im „Book of Sports“ ausdrücklich sonntägliche Sportveranstaltungen – gegen den Willen der Puritaner. Er hatte durchaus Grund, sein Volk bei Laune zu halten, denn:

„Askese ... [ist] in ihrer genuinen Gestalt stets ‚autoritätsfeindlich‘.“

Die monarchisch feudale Gesellschaft – so schreibt Max Weber – habe die „Vergnügungswilligen“ gegen das puritanische Bürgertum ebenso in Schutz genommen, wie später die kapitalistische Gesellschaft die „Arbeitswilligen“ gegen die autoritätsfeindlichen Gewerkschaften.

Heute schützt die kapitalistische Gesellschaft die Konsumwilligen gegen den autoritätsfeindlichen Verzicht, möchte man hinzufügen. Robert Pfallers Furcht vor dem Verlust der Genussfähigkeit ist berechtigt. Natürlich hat der neoliberale Selbstoptimierungszwang Gesundheit zur neuen Gottgefälligkeit erhoben; wir prüfen, disziplinieren, regeln und vermessen alles – aber das ist kein Puritanismus, sondern Angst vor Verlust.

Askese ist der eigentliche Affront heute. Das Wort löst nachgerade Panik aus. Der historische Antipuritanismus empörte sich eher über den Eifer und die Scheinheiligkeit der Frommen, weniger über deren angebliche Genussfeindlichkeit. Heute ist das anders. Die politisch Korrekten, so ist die Befürchtung, predigen nicht nur Wasser, sie trinken es auch. In einer Gesellschaft, die wahnsinnige Angst hat, man könnte ihr etwas wegnehmen, wird Genuss genauso zur Ideologie wie früher der Verzicht.

These 4: Nicht der Fanatismus an sich ist schlimm, sondern seine Kleinlichkeit.

Der moderne Mensch mag sich nicht gerne etwas verbieten lassen – daher sein Unbehagen an puritanischen Regeln. Verbietet die angebliche Verbotskultur derzeit eigentlich stärker oder mehr als zu vergangenen Zeiten?

Ratschlag von 1707: „good humour“ 

Tatsächlich reagiert die Politik mit Umweltauflagen, Regeln zum Gesundheitsschutz, Diskriminierungsverboten vor allem auf die entfesselte Liberalisierung einer globalen Konsumkultur.

Den „Puritanismus“ dabei als Vergleichsgröße zu bemühen ist historisch und sachlich falsch. Im Gegenteil ließe sich am semantischen Konstrukt des Puritanismus – und von nichts anderem kann hier die Rede sein – einiges retten: sein Ernst, seine Strenge, seine Prinzipientreue, ja sogar seine Starrköpfigkeit. Nichts spricht dagegen, mit „Zeal“, also mit Eifer und voller Wucht, hundertprozentig überzeugt für Ziele einzutreten, die die Welt besser und – wenn man es so formulieren will – Gott gefälliger machen.

„Gute Laune ist nicht nur die beste Sicherheit gegen Enthusiasmus, sondern auch die beste Grundlage der Frömmigkeit und wahren Religion.“

Schrieb Sir Anthony Ashley-Cooper, Dritter Earl of Shaftesbury, 1707 in seinem „Brief über den Enthusiasmus“. In den derzeit bis zur Ermüdung polarisierten Debatten mag der Rat Lord Shaftesburys helfen. „Good humour“, Gute Laune, bedeutet nicht Beliebigkeit in der Sache, aber Großzügigkeit und Offenheit, zum Beispiel um ein anderes, differenzierteres Bild vom Puritanismus zu zeichnen.



Andrea Roedig, geboren 1962 in Düsseldorf, lebt seit 2007 als freie Publizistin in Wien. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift „Wespennest“. Aktuelle Buchveröffentlichung: „Bestandsaufnahme Kopfarbeit“ (zusammen mit Sandra Lehmann), Klever-Verlag 2015.


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