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"Der Islam war einmal tolerant, fortschrittlich und weltoffener"


2015-12-27 Kurier

"Der Islam war einmal tolerant, fortschrittlich und weltoffener"

Helmut Brandstätter

Autor Gerhard Schweizer hat Syrien kennengelernt, bevor das Land durch Baschar Assad in einen Bürgerkrieg getrieben wurde.
In seinem Buch "Syrien verstehen" analysiert er die vielen Spielarten des Islam, die einander im Nahen Osten bekriegen, Millionen zur Flucht zwingen.     


KURIER: Syrien ist ja historisch ein sehr vielschichtiges Gebilde. Syrien war in der Spätantike eine geistige Hochburg des Christentums, dann eines der großen kulturellen Zentren des Islam und auch ein Brennpunkt der Spaltung in Sunniten und Schiiten, dann ein wesentlicher Schauplatz der Kreuzzüge, im 20. Jahrhundert schließlich eine wichtige Keimzelle des arabischen Nationalismus wie des islamischen Fundamentalismus. Und seit 2011 ist Syrien Schauplatz eines äußerst blutigen Bürgerkriegs, bei dem sich politische und religiöse Motive überlagern. Wird Syrien da herausfinden?
Gerhard Schweizer: Die Fronten innerhalb dieses Bürgerkriegs sind äußerst kompliziert. Auf der einen Seite haben wir das Assad-Regime mit einer offiziell säkularen und nationalistischen Ideologie, auf der anderen Seite stehen verschiedene Rebellengruppen mit einer mehr oder weniger radikalen islamistischen Ideologie. Die Rebellengruppen sind in sich religiös und ideologisch aufgespalten. Am radikalsten ist die Terrororganisation des sogenannten "Islamischen Staates", des IS. Aber der IS kämpft nicht nur fanatisch gegen das säkulare, "ungläubige" Assad-Regime, sondern auch gegen viele der islamistischen Rebellengruppen, obwohl diese doch auch Gegner des Assad-Regimes sind. Die Islamisten der anderen Gruppen gelten als Rivalen und "Verräter" am wahren Glauben. Diese religiös-politische Rivalität schwächt die Front gegen Assad. Besonders verhängnisvoll ist, dass ausgerechnet der IS aus diesen Kämpfen gestärkt hervorgeht, weil er militärisch am besten gerüstet ist.


Der IS soll vernichtet werden, darin sind sich nicht nur die westlichen Mächte einig, sondern auch viele islamische Staaten. Ist das ehrlich?

Die Westmächte, Europa und die USA, haben ein echtes Interesse an der Vernichtung des IS, schließlich sehen sie sich immer stärker bedroht. Ein entschiedener Gegner des IS ist auch der Gottesstaat des Iran, dies aus zwei Gründen: Zum einen ist Iran mit dem Assad-Regime politisch verbündet, zum andern ist das Mullah-Regime des Iran schiitisch, der IS aber radikal-sunnitisch. Hier spielt der konfessionelle Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten eine wichtige Rolle. Nicht so eindeutig bekämpft das Assad-Regime den IS. Assad schickt seine Truppen hauptsächlich gegen jene Rebellen, die mit dem IS rivalisieren. Assad will unter seinen Gegnern nur die Rivalen des IS schwächen, nicht den IS selbst. Assad liegt daran, den IS als eine Drohkulisse zu erhalten, um so die Westmächte zum militärischen Eingreifen zu drängen – und zwar auf der Seite des Assad-Regimes. Der Westen hat dieser Logik zufolge zu wählen zwischen dem Assad-Regime als dem kleineren Übel und dem IS als dem wesentlich größeren Übel. Die Türkei verhält sich ähnlich zwiespältig. Offiziell ist die islamisch-konservative Regierung der Türkei ein Gegner des IS, aber die Türkei kämpft viel stärker gegen die syrischen Kurden. Wie das? Gerade die Kurden sind doch wichtige und sehr erfolgreiche Kämpfer gegen den IS. Die Antwort lautet: Die türkische Regierung möchte verhindern, dass die kurdischen Rebellen möglicherweise einen eigenen Staat gründen, daher liegt den Türken daran, dass die Kurden durch den IS geschwächt werden. Wie gefährlich eine derart zwielichtige Politik ist, zeigt ja die gegenwärtige Entwicklung.


…


Also Assad profitiert letztlich vom IS. Die Türkei indirekt auch. Wer unterstützt noch den IS? Die Saudis – ja oder nein? Die Golfstaaten?
Es ist frappierend, welch starke ideologische Übereinstimmung in Kernfragen einer religiösen Staatsordnung zwischen dem IS und dem islamistischen Königreich Saudi-Arabien besteht. Hier wie dort findet sich eine radikale Intoleranz gegen Andersgläubige, hier wie dort gilt jede Kritik am orthodoxen Islam in seiner rigiden fundamentalistischen Ausprägung als todeswürdiges Verbrechen. Der IS steht wie Saudi-Arabien strikt in der Tradition des wahhabitischen Islam. Dies trifft ja auch für die El Kaida zu. Daher ist es nur folgerichtig gewesen, dass Saudi-Arabien den IS ebenso wie El Kaida lange Zeit finanziell erheblich unterstützt hat. Dieses Naheverhältnis hat sich erst 2014 aufgelöst, als die El Kaida und der IS schließlich auch Saudi-Arabien als eine korrupte Macht kritisierten, weil Saudi-Arabien letztendlich ein Lakai westlicher Geschäftsinteressen sei.
Glaubt irgendwer im IS ernsthaft, dass ihr Staat ein weltweites "Kalifat" aufbauen kann?
Die islamische Welt ist religiös wie politisch aufgesplittert, der Westen dagegen ist wirtschaftlich wie militärisch stark. Um so mehr mag es verblüffen, dass der IS propagiert, er werde seine Art von Islam in der ganzen Welt ausbreiten und hierbei auch den Westen besiegen.
Liegt dies nicht an der religiösen Grundhaltung des IS?

Was Al Bagdhadi, der religiös-politische Führer des IS, propagiert, scheint mir eine Art apokalyptischer Wahnvorstellung. Er glaubt wohl, ein Werkzeug Gottes zu sein, um in einem Entscheidungskampf den Sieg des "wahren Islam" über alle Widersacher herbeizuführen. Und er vermag ja auch, wie wir inzwischen wissen, religiös und sozial desorientierte Muslime, vor allem kulturell entwurzelte Jugendliche, für seine apokalyptische Vision zu gewinnen. Aber inzwischen wissen wir auch, dass der IS in sich keine ideologische Einheit bildet. Der IS konnte nur deshalb militärisch und organisatorisch so stark werden, weil Ex-Agenten von Saddam Hussein das nötige Know-how lieferten. Diese Anhänger Saddam Husseins sind aber mehrheitlich säkular, nicht betont religiös. Als einer der wichtigsten Ex-Agenten durch rivalisierende Islamisten 2014 getötet wurde, hat man in seiner Wohnung keinen Koran, aber Whisky gefunden. So gesehen ist der IS religiös und politisch ein eher fragiles Gebilde. Es könnte in absehbarer Zeit passieren, dass unter erhöhtem Druck der IS angesichts solcher Widersprüche einer gefährlichen Zerreißprobe ausgesetzt ist. Eindeutig ist nur: Im IS manifestiert sich eine Macht, die den Einfluss der Schiiten radikal verdrängen und durch eine ausschließliche Macht der Sunniten ersetzen will. Wirtschaftliche, politische und religiöse Motive überlagern sich hier.


Da sind wir jetzt tief in der syrischen Geschichte. In diesem Bürgerkrieg seit 2011 vermischen sich ja gerade machtpolitische und religiöse Motive. Assad ist ja bekanntlich Alawit. Die Alawiten bilden eine schiitische Sekte, die in Syrien etwa 11 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Rund 70 Prozent der Syrer sind Sunniten, rund 10 Prozent sind Christen, rund 2 Prozent Schiiten, rund 3 Prozent sind Drusen. Im Verlauf des Bürgerkriegs zeigt sich zunehmend, dass die ursprünglich politischen Konflikte und Verteilungskämpfe entlang religiöser Grenzlinien verlaufen. Entstehtzunehmend ein Religionskrieg?

Die Tendenz weist schon längere Zeit in diese Richtung. Verhängnisvoll ist, dass sich bei der Regierungspartei ein Großteil des Volksvermögens konzentriert, während die Mehrheit des Volkes in eher ärmlichen Verhältnissen lebt. Macht und Reichtum ballt sich also bei den Alawiten, während viele der Sunniten sozial benachteiligt sind. Zwei verschiedene Religionsgemeinschaften kämpfen also um Macht und Einfluss. Äußerst verhängnisvoll ist hierbei, dass die schiitisch geprägten Alawiten von der Mehrheit der Sunniten als "ungläubig" angesehen werden. Die soziale Rebellion gegen das Assad-Regime ist so immer mehr auch zu einer religiös geprägten Rebellion geworden.


Kann es in naher Zukunft nicht wieder zu einem politisch-religiösen Ausgleich kommen?
Was im Augenblick zu beobachten ist, verheißt nichts Gutes. Gegenwärtig findet eine quasi religiöse "Säuberung" statt. Radikal-sunnitische Gegner von Assad verbreiten Parolen wie "Christen nach Beirut, Alawiten in den Sarg". Die Christen als mutmaßliche Sympathisanten ihres Schutzherrn Assad, sollten in den Libanon auswandern, wo ohnehin viele Christen leben, die Alawiten aber verdienten als "Ungläubige" ausnahmslos den Tod. Wenn die Alawiten also überleben wollen, müssen sie sich in ihrem verbliebenen Machtbereich möglichst extrem abkapseln. Auf diese Weise würde eine Art "Alawitistan" entstehen, daneben ein "Sunnitistan", daneben ein IS-Kalifat – alles sehr kleine Gebiete mit religiös extrem einheitlicher Bevölkerung. Dies erinnert an die Situation der europäischen Glaubenskriege, als Katholiken und Protestanten sich immer mehr voneinander absonderten. Aber das war noch vor wenigen Jahrzehnten in Syrien völlig anders. Ich kenne eine Reihe Syrer, die in Mischehen leben, also Sunniten und Schiiten und Alawiten miteinander verheiratet sind. Der säkulare Diktator Baschar al-Assad selbst lebt ja in einer Mischehe, er ist mit einer Sunnitin verheiratet. Aus der Sicht orthodoxer Sunniten ist eine solche Mischehe eine schwere Sünde. Wir können uns angesichts solcher Haltung an eine nicht allzu weit zurückliegende Zeit unserer christlichen Vergangenheit erinnern.
Seit wann spielt die Zugehörigkeit zu einer der verschiedenen Glaubensrichtungen in der islamischen Welt wieder eine Rolle?
Es ist in der Tat nicht nur ein Problem in Syrien, sondern in der gesamten islamischen Welt. Wesentlich zu dieser Veränderung haben radikal-islamische Bewegungen beigetragen, anfangs vor allem die El Kaida. Radikale Sunniten haben begonnen, schiitische Moscheen zu zerstören, um so religiös-politische Unruhen zu provozieren. Diese Radikalisierung hat im Nachbarstaat Irak ihren Anfang genommen, in einem Land, das ähnlich multi-religiös wie Syrien ist.
Das heißt, der Irak ist ähnlich schwierig zu befrieden wie Syrien?
Dies ist die Situation heute. Dabei war der islamische Raum noch vor etlichen Jahrhunderten viel fortschrittlicher als das christlich geprägte Europa. Das gilt gerade auch für die religiöse Toleranz. Im Mittelalter genossen Andersgläubige unter islamischer Oberhoheit eine wesentlich größere Toleranz als etwa Andersgläubige im christlichen Abendland. Auch die Wissenschaft war damals unter islamischer Herrschaft weltoffener als bei Christen.
Wie aber stellt sich die Situation heute dar? Haben Muslime nicht große Schwierigkeiten, sich nun mit unserer Kultur vertraut zu machen? Jetzt kommen Muslime in großer Zahl als Flüchtlinge zu uns nach Europa. Viele von ihnen sind möglicherweise strenggläubig. Fällt es ihnen nicht schwer, sich mit den Gepflogenheiten eines säkularen Staatswesens vertraut zu machen?
Es gibt diese Schwierigkeiten. Aber ein Teil der Syrer ist säkular, erst recht gilt das für einen beträchtlichen Prozentsatz der Türken. Sie wissen sehr wohl die Freiräume zu schätzen, die ein säkulares Staatswesen mit ihrer Form von Meinungsfreiheit und Toleranz bietet. Für nicht säkular orientierte Muslime wird es schwieriger. Hier ist die Fähigkeit zur Integration gefordert – dies aber nicht nur von Muslimen, sondern auch von den Europäern. Beide Seiten müssen das Ihre zu einem Miteinander aufbringen. Das ist allerdings eine Herausforderung mit noch vielen offenen Fragen. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber betonen, dass man Integration nicht mit Assimilation verwechseln sollte. Assimilation bedeutet, dass der Fremde sich völlig der anderen Kultur anzupassen hat. Integration dagegen bedeutet, dass man dem Zuwanderer das Recht auf kulturelle Eigenständigkeit lässt – dies allerdings unter der Voraussetzung, dass der Zuwanderer die Grundwerte des säkularen Staates anerkennt.

Syrien, Islam, Schiiten, Sunniten, IS, Assad, Türkei, Erdogan
Kommentare und Hervorhebungen: JPS

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