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"Genuss ist politisch"

"Genuss ist politisch"

Der Philosoph Robert Pfaller verteidigt die Unvernunft.
Das Leben sei nur dann lebenswert, sagt er, wenn wir miteinander feiern, trinken und schlafen.


ZEIT Campus: Herr Pfaller, wann haben Sie das letzte Mal eine kindische Dummheit begangen?

Robert Pfaller: Oh, erst vor Kurzem. Aber ich werde Ihnen nicht verraten, welche.

ZEIT Campus: Nicht? Dabei schreiben Sie, man müsse sich kindische Dummheiten gönnen, sonst sei das Leben nicht lebenswert.

Pfaller: Bezeichnenderweise kann man anderen Leuten heute aber nichts mehr vorbildhaft vorleben – auch nicht als Philosoph. Früher war das anders: Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir zum Beispiel führten in den 1950er Jahren eine offene Beziehung. Das passte zu ihrer Philosophie, wich von den Moralvorstellungen ab – und hatte eine Vorbildfunktion, die etwas in der Gesellschaft veränderte. Heute ist das nicht mehr möglich. Wer heute abweicht, wird nur als Freak wahrgenommen. Die anderen nehmen sich kein Beispiel, sondern zeigen bloß mit dem Finger auf ihn.

ZEIT Campus: Heute ist aber auch viel mehr erlaubt als in den 1950ern!

Pfaller: Da sollten wir uns nicht täuschen. Wir dürfen heute nicht viel mehr. Der Unterschied ist, dass wir uns mit immer besseren Argumenten selbst verbieten, was uns früher von anderen Menschen verboten worden wäre.

ZEIT Campus: Das müssen Sie bitte erklären.

Pfaller: Frauen und Männer sind heute mindestens genauso sexfeindlich und scheu wie in den 1950ern. Nur die Gründe sind andere. Damals fürchtete man den Verlust des öffentlichen Ansehens und die gesellschaftlichen Tabus. Heute sind die Motive Emanzipiertheit und Respekt vor der Emanzipation. Was früher als höflicher und charmanter Umgang galt, lehnen wir ab, weil wir solche sozialen und kulturellen Gebote als »normierend« empfinden. Wir fürchten um die Selbstbestimmung und unsere angeblich so verletzliche Identität.

ZEIT Campus: Ist doch gut: Jeder kann sein, wie er will.

Pfaller: Auffällig ist nur, dass die wenigsten dabei glücklich sind. Psychoanalytisch ist das erklärbar: In jedem Begehren, das wir haben, steckt auch das Begehren der anderen. Jede Mode, die uns gefällt, gefällt uns, weil sie anderen gefällt – und weil wir hoffen, anderen darin zu gefallen. Wenn wir das für Fremdbestimmung halten und ablehnen, dann rebellieren wir aber nicht gegen einschränkende Normen, sondern gegen unsere Geselligkeit. Gegen gesellschaftliche Ideale, die uns helfen, keine miesen Spaßverderber zu sein. Gesellschaftliche Ideale, die für unser Glück notwendig sind.

ZEIT Campus: Haben Sie dafür ein Beispiel?

Pfaller: Wenn wir Fußball spielen, mag es frustrierend sein, sich mit einem Zinedine Zidane zu vergleichen, aber es spornt auch an und führt zu Glücksmomenten, wenn uns etwas Kleines gelingt. Wenn mir aber gesagt wird: »Hier ist ein Ball, spielen Sie doch so, wie Sie wollen«, dann weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich glaube, dass das Unglück vieler Menschen auch daher kommt, dass uns die Idealvorstellungen fehlen.

ZEIT Campus: Und warum sind Ihnen neben den Vorbildern die kindischen Dummheiten so wichtig?

Pfaller: Während uns die sozialen Ideale abhandengekommen sind, beherrscht uns heute das viel perfidere, im »Ich« verankerte Ideal der Vernunft. Wir erleben nicht mehr den äußeren Druck, uns auf irgendeine Weise akzeptabel zu verhalten, sondern den inneren Druck, immer vernünftig zu sein. Das heißt: möglichst effizient zu handeln, uns permanent selbst zu optimieren und alles zu vermeiden, was zwar lustvoll, aber scheinbar schlecht für uns ist. Deshalb trinken wir Bier ohne Alkohol, essen Margarine ohne Fett und haben im Internet Sex ohne Körperkontakt.

ZEIT Campus: Was spricht dagegen?

Pfaller: Immer nur vernünftig zu sein ist kein Kennzeichen davon, dass man tatsächlich vernünftig ist. Man verhält sich dann nicht erwachsen, sondern schrecklich altklug. Altkluge Kinder sagen: »Ich werde nie Alkohol trinken! Ich werde nie meine Zeit mit Mädchen verschwenden!« Sie verstehen nicht, warum Erwachsene scherzen, sich berauschen oder sich verlieben, also unvernünftige Dinge tun.

ZEIT Campus: Und warum tun Erwachsene das?

Pfaller: Wer nur vernünftig ist, funktioniert wie eine Maschine. Das ist nicht lebenswert. Wir arbeiten dann ständig dafür, unser Leben zu finanzieren und zu verlängern. Aber wir fragen uns nicht, wofür wir überhaupt am Leben sind. Erst wenn wir unvernünftige Dinge tun, tanzen, trinken oder uns verlieben, haben wir das Gefühl, dass es sich zu leben lohnt.

ZEIT Campus: Woran liegt das?

Pfaller: Nur wenn wir ein bisschen verschwenderisch mit dem Leben umgehen, verhalten wir uns wirklich souverän und frei, weil das Leben dann nicht mehr Mittel zum Zweck ist. Alles, was uns Genuss verschafft, hat deshalb ein zwiespältiges und unvernünftiges Element. Alkohol ist ungesund, Sex ist unappetitlich, und Musikhören ist Zeitverschwendung.

ZEIT Campus: Wir genießen nur das, was uns schadet?

Pfaller: Ja, und deshalb können wir Alkohol, Sex und selbst den Müßiggang des Musikhörens nur in bestimmten Momenten, gemeinsam mit anderen, genießen. Allein ein Glas Sekt zu trinken macht keinen Spaß. Dafür schmeckt es umso besser, wenn jemand sagt: »Wir lassen jetzt die Arbeit ruhen und stoßen an, denn die Kollegin hat Geburtstag!« Es ist die besondere Kraft der Kultur, dass sie uns aus unserem vernünftigen, aber unsouveränen Alltagsverhalten herausreißen kann. Sie erlaubt uns, ab und zu unvernünftig zu sein und mit anderen Menschen das Leben zu genießen.

ZEIT Campus: Mal ehrlich: Beschäftigen Sie sich nicht mit philosophischen Luxusproblemen?

Pfaller: Im Gegenteil: Es ist ein Ausdruck unserer Luxusgesellschaft, dass wir glauben, uns mit diesen Fragen nicht mehr beschäftigten zu müssen. Wenn sich unterdrückte Menschen zu Revolutionen erheben, geht es ihnen niemals nur um den Kampf gegen Hunger oder Armut, sondern immer auch um Glück und Würde. Diese Revolutionäre fordern ein Leben, für das es sich zu leben lohnt. Diese Forderung ist in den reichsten Gesellschaften der Welt abhandengekommen.

ZEIT Campus: Die EU bricht auseinander, der Klimawandel ist kaum noch zu stoppen, und Sie sagen: »Leute, genießt euer Glas Sekt«?

Pfaller: Die Genussfrage ist aus meiner Sicht eine politische Frage. Früher gab es einen öffentlichen Raum, der von gemeinsamen Idealen geprägt war. Man trug in der Öffentlichkeit feinere Kleider und benahm sich höflicher als zu Hause. Wenn andere rauchen wollten, dann ließ man das zu, denn das galt als elegant. Weil es diese geteilten Vorstellungen von Eleganz nicht mehr gibt und jeder die Qualität von Öffentlichkeit mit seinen privaten Maßstäben misst, sind wir heute schnell dabei, alles zu verbieten, was uns stört: Auf manchen öffentlichen Plätzen darf kein Alkohol mehr getrunken werden, in Bars und Restaurants gilt das Rauchverbot.

ZEIT Campus: Aber es ist doch auch unhöflich, anderen Rauch ins Gesicht zu blasen.

Pfaller: Während uns das Rauchverbot als Fortschritt verkauft wird, finden enorme politische Beraubungen statt. Sie haben heute vielerorts keinen Anspruch mehr auf öffentlich finanzierte Hochschulbildung, auf soziale Sicherheit oder auf eine verlässliche Altersvorsorge – geschweige denn auf Würde, Eleganz und Genuss. Das müssen Sie alles privat für sich regeln. Die Öffentlichkeit wird zu einer Sphäre von Verboten und von Verzicht.

ZEIT Campus: Man könnte auch sagen, dass es ein Zeichen von Souveränität und Freiheit ist, Alkohol und Zigaretten abzulehnen.

Pfaller: Dann stellt sich die Frage, wo wir Freiheit verorten. Bin ich da frei, wo ich auf meine kleine, einsame Privatexistenz reduziert bin und mir nicht zugetraut wird, über meine Befindlichkeiten hinauszuwachsen? Oder ist Freiheit das, was meine gesellschaftliche, politische und öffentliche Existenz ausmacht? Ich denke, Freiheit liegt in der Öffentlichkeit, in der Existenz als politischer Bürger gemeinsam mit anderen. Wenn jeder nur seine Eigeninteressen verfolgt, ist das keine Befreiung, sondern Entpolitisierung und Entsolidarisierung.

ZEIT Campus: Erst dadurch, dass wir genießen, werden wir zu politischen Bürgern?

Pfaller: Umgekehrt: Wir müssen politische Bürger werden, um genießen zu können. Wir müssen uns öffentliche Räume zurückerobern, um glücksfähig zu werden. Dabei müssen wir uns gegen eine Regierung wehren, die die Bankenaufsicht vernachlässigt und stattdessen das Rauchen verbietet – und auch dagegen, dass uns Ideen als befreiend oder solidarisch vorkommen, die es gar nicht sind.

ZEIT Campus: Was meinen Sie damit konkret?

Pfaller: Etwa die Idee der Vielfalt, oder diversity, die in Wahrheit immer eine Vielfalt von einfältigen Identitäten und homogenen Communitys ist. Statt von Community, also Gemeinschaft, sollten wir von Gesellschaft sprechen.

ZEIT Campus: Was ist falsch an der Community?

Pfaller: Niemand ist nur Frau, nur Muslim oder nur Bondage-Fan. Alle können auch etwas anderes, Öffentliches sein. Wir brauchen öffentliche Räume, in denen man uns zutraut, von unseren privaten Eigenschaften abzusehen und mit Menschen solidarisch zu sein, mit denen wir keine privaten Interessen teilen. Das allein macht schon ziemlich glücklich.

ZEIT Campus: Genießen Sie mehr oder weniger, seit Sie beruflich über dieses Thema nachdenken?

Pfaller: Das Nachdenken über Glück und Genuss kann ein wichtiger Teil des Glücks sein. Und das genieße ich sehr.


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