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Verbotene Leidenschaften

Verbotene Leidenschaften

Gregor Hens und Peter Richter verbeugen sich vor dem Trinken und Rauchen.

Nichtraucher leben gesünder als Raucher. Nichttrinker wohl auch, zumindest sparen sie die Nebenkosten für Taxi und Aspirin. Nichtfleischesser sind ethisch mit sich im Reinen.

Es gibt noch einiges andere, das nicht zu tun als Vorzug eines mit Bedacht geführten Lebens gelten darf; Nichtzuvielfernsehschauen beispielsweise. Aber die Trias aus Nichtrauchen, Nichttrinken und Nichtfleischessen repräsentiert am deutlichsten jene Abstinenzmentalität, die sich wachsender gesellschaftlicher Zustimmung erfreut. Dies ist eine neutrale Feststellung und kein Plädoyer fürs Zigarettenrauchen, Alkoholtrinken oder Fleischessen. Wer es ernsthaft hielte, leugnete das hohe Krebsrisiko der Raucher, die Qualen der Trunksucht, die Barbarei der Fleischfabriken. Dies alles vor Augen zu haben, gebietet die Vernunft. Aber sie gebietet auch etwas anderes, nämlich die Frage, was es für die Emotionslage einer Gesellschaft bedeutet, wenn sie Abstinenz, also das Nichttun von etwas, das Unterlassen kultureller Gewohnheiten zur letzten realisierbaren Utopie erhebt.

Man kann die Frage auch zuspitzen: Liegt in der Vorstellung einer Gesellschaft, die sich den individuellen und sozialen Innendruck beständiger Verzichtsdisziplin zumutet, nicht etwas ausgesprochen Bedrohliches? Kann man nicht die Uhr danach stellen, wann sich dieser Druck, der den Einzelnen zum Feind seiner selbst, zum immerzu nicht genügend verzichtsfähigen Ich-Gegner macht, ein Außenventil sucht? Dass Abstinenz, wie ihr Gegenteil, der Überkonsum, eine Tendenz zum Zwanghaften besitzt, wird begreifen, wer amerikanische Therapieprogramme mit dem Lernziel "sexuelle Abstinenz" studiert. Safer Sex gilt hier als die zweitbeste, Nichtsex als die beste L?sung im Kampf gegen Aids.

So weit sind wir hier noch nicht. Aber weit genug, dass die Literatur auf das Thema reagiert. Es dürfte kein Zufall sein, dass in diesem Frühjahr zur gleichen Zeit zwei erzählende Essays erscheinen, die sich mit unseren Lieblingslastern beschäftigen. Das eine Buch stammt von dem Schriftsteller Gregor Hens, Jahrgang 1965, Nikotin . Das andere stammt von dem Publizisten Peter Richter, Jahrgang 1973, und heißt Über das Trinken.

Auf den ersten Blick unterscheiden sich die B?cher schon deshalb, weil sie von gegens?tzlichen Konsumentscheidungen ausgehen. Der eine Autor raucht nicht mehr. Der andere wird das kommende Wochenende nicht ohne einen guten Schluck aus seinem Weinklimaschrank verbringen. Gregor Hens, der in der Kindheit mit dem Rauchen begann, Jahre und Jahrzehnte wegrauchte, was ihm in die Finger kam, hat aufgehört damit. Er berichtet von acht hinter ihm liegenden ohne eine einzige Zigarette verlaufenen Monaten. Dass das nichts heißt, weiß er natürlich. Wer die Zigaretten einmal so sehr geliebt, mit allen Symptomen schwerer Sucht gebraucht hat, bleibt ihrem Reiz verfallen, wenn auch im Passivitätsmodus eines Mannes, der die Nummer der Exgeliebten im Handy löscht, um sie nicht mehr anrufen zu können. Der Suchtfaktor von Zigaretten ist dem von Heroin erwiesenermaßen ebenbürtig. Nur die gesundheitlichen Schäden sind nicht ganz so krass. Gregor Hens beschönigt hier nichts. Im Gegenteil, eine der Qualitäten seines Buches ist Schonungslosigkeit, die er allerdings, worin eine weitere Qualität liegt, nicht auf Verwerflichkeit und Wohlverhalten seiner Mitmenschen anwendet, sondern ausschließlich auf sich. Auf die Selbststudie einer Fixierung, die ihn fast sein gesamtes Leben begleitet, die, genauer gesagt, ihn und sein Leben beherrscht hat. Hens lässt nichts aus. Er erzählt vom Fehlschlag zahlloser Aufhörversuche, die am Nachmittag mit dem heroischen Entschluss: Dies war meine letzte Zigarette, beginnen und am Abend mit dem Umkippen des Mülls enden, in dem sich die kürzlich entsorgte, nun eingesaute Zigarettenschachtel befindet. Er erzählt von Atemnot und Selbstekel, er unterschlägt nicht den demütigenden Selbstbetrug jedes Süchtigen. Aber ebenso wenig unterschlägt er den herrlichen Gewinn an Intensität, an Lust- und Lebensgefühl, der sich dem Nikotinkick im Gehirn verdankt.

Man kann sein Buch als beeindruckend dichte Autobiografie lesen, die ihr Erzählmaterial unter dem Kriterium der Nikotinabhängigkeit versammelt. Man kann es auch als kleine Kulturgeschichte des Rauchens lesen, die von den sechziger Jahren bis in die Gegenwart reicht und daran erinnert, dass es noch vor Kurzem Eltern gab, die, wie in Hens? Familie üblich, eine gesamte Urlaubsautofahrt lang die Kinder bei geschlossenen Fenstern so einqualmten, dass sie die Hand nicht mehr vor Augen sahen. Aber das Entscheidende des Buches ist das philosophische Szenario, das sich im Hintergrund all dieser Rauchepisoden entwickelt. Es verrechnet, ohne Dogmatisierung, den Gewinn an Gesundheit mit dem Verlust des sinnlichen Glücks: des Glücks der Verausgabung an ein Genusslaster, das so unnotwendig wie unvernünftig ist und gerade deshalb ein Fünkchen, ja, Transzendenz aufflammen lässt.

Dies ist der Punkt, in dem Gregor Hens und Peter Richter sich treffen. Dessen Streifzug durch die Welt der Getränke, Gelegenheiten und Gemüter kommt ein wenig spaßiger, lässiger, man könnte, dem Gegenstand entsprechend, auch sagen: angeschickerter daher. Peter Richter, Autor der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, ist ein Doppeltalent, einer der wenigen Kulturkritiker mit Comedy-Qualitäten. In keinem seiner Bücher vertragen sich Scharfsinn und Pointe allerdings so gut wie in seinem neuen. Der Mann, der qualitativ Gutes liebt, den Habitus des Anspruchsvollen wie den des Genussmenschen schätzt, der von kultivierten Sommeliers, von der Selbstverständlichkeit mediterraner Trinkkultur, von Führerscheinentzug, von den Entgleisungen des Kölner Karnevals, vom durchgehenden Bierrausch unserer vormodernen Vorfahren zu berichten weiß ? dieser stilistisch elegante Autor verfolgt, wenn auch in diskreten Nebensätzen, zugleich ein ernstes Anliegen. Er stellt das Drohbild einer Gesellschaft in Aussicht, die sich auf das Prinzip der Abstinenz und auf ein Menschenbild verständigt, in dem Lunge und Leber sinnstiftend dominieren.

Obwohl der eine Autor für sich entschieden hat, nicht mehr zu rauchen, der andere entschlossen ist, dem maßvollen Alkoholkonsum treu zu bleiben, sind sie sich in einem einig: dem strikten Verzicht auf das diskusive Gift des Moralismus. Das hat fast etwas Provokantes. Man erwartet kaum noch, dass sich jemand ohne den Impuls moralischer Erregung oder Missionierung zum Thema Konsumlaster äußert. Aber für das Unerwartete, für den Gegendiskurs, ist Literatur ja nun mal da. Beide Bücher sind: reine Ratgeber. Keine Streitschriften für oder gegen Raucherschutzgesetze und Alkoholfreigabebestimmungen. Sondern bedeutsame phänomenologische Betrachtungen, verfasst im persönlichen Duktus und im wohltuenden Geist der Ideologiefreiheit. Dabei sind es erstaunlich emphatische Bücher. Aber es handelt sich eben nicht um die Emphase der Handlungsanleitung, sondern um die des Verstehenwollens, was das eigentlich ist: diese ganze Kultur des Unvernünftigen. Und bevor wir sie verabschieden, ist ein bisschen unvoreingenommenes Verstehen ganz gesund.


Gregor Hens: Nikotin

S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011; 187 S., 17,95 ?

Peter Richter: Über das Trinken

Goldmann Verlag, M?nchen 2011; 222 S., 12,99 ?


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